Original-Link : http://www.stadtmuseum-halle.de/lesen1.htm


Louise Caroline Reichardt Liedkomponistin - eine der ersten Musikpädagoginnen des 19. Jahrhunderts - oder die unbekannte Tochter eines bekannten Vaters



Am 10. 4. 1779 wird Louise Caroline in Berlin am Dönhoffschen Platz als zweites Kind ihrer Eltern Bernhardine Juliane, geborene Benda, und Johann Friedrich Reichardt geboren. In der Dreifaltigkeitskirche wird sie getauft. Zu ihren Taufpaten gehört die Fürstin Luise von Anhalt Dessau, die später den Ankauf des Giebichensteiner Gutes ermöglicht. Ihre Mutter Juliane Benda war die jüngste Tochter des Komponisten und Konzertmeisters Franz Benda in der Hofkapelle Friedrich II. Franz Benda entstammte einer böhmischen Musikantenfamilie, für deren Übersiedlung Friedrich II. bei seinem Vetter, dem „Alten Dessauer" (Leopold I. Fürst von Anhalt- Dessau)1742 um Erlaubnis gebeten hatte. Zusammen mit anderen böhmischen Leinewebern siedelte sich Franz Bendas Vater Georg in Nowawes-Neuendorf bei Potsdam an. Außer Franz gehörten noch 4 Brüder der Hofkapelle an. Juliane Benda war sehr musikalisch, erhielt von ihrem Vater Musikunterricht und war schon in jungen Jahren eine geschätzte Sängerin, Klavierspielerin und Komponistin. Ernst Ludwig Gerber, ein Zeitgenosse Bendas, sagte über Juliane, daß sie zu den angenehmsten und gefühlvollsten Sängerinnen ihrer Zeit gehörte und daß sie ihren Ausdruck ganz nach der edlen und rührenden Manier ihres Vaters gebildet habe. Zwei Klaviersonaten und etwa 30 Lieder sind heute von Juliane bekannt. 1774 hatte Johann Friedrich Reichardt Juliane im Hause ihres Vaters als ein liebes, reines zärtliches, doch munteres Mädchen kennengelernt, sich in sie verliebt und nach dem Erhalt der Hofkapellmeister - Stelle 1777 Juliane geheiratet. Bei der Geburt ihres dritten Kindes stirbt Juliane am 9. Mai 1783 mit 31 Jahren, hinterläßt zwei kleine Töchter, Louise und Juliane, der erstgeborene Sohn Wilhelm starb bereits mit zwei Jahren. In zweiter Ehe heiratet Reichardt im gleichen Jahr die befreundete Witwe Johanna Wilhelmina Dorothea Hensler, geborene Alberti, aus Hamburg. Ihr Sohn Wilhelm lebte bereits als Pflegesohn im Hause Reichardt. Der Vater Johannas war der Prediger Julius Gustav Alberti, der ein Freund Lessings war. Johanna bringt in die neue Ehe zwei Töchter und einen Sohn mit, in der neuen Verbindung werden drei Töchter und zwei Söhne geboren, so daß die Familie letztlich aus 12 Personen bestand. Bei der späteren Geldknappheit kein leichtes Unterfangen, die Familie zu ernähren. Nach ihrer Verheiratung gehen Johanna und Friedrich Reichardt auf Reisen. Die zurückbleibenden Kinder werden zu Tanten gegeben. Louises Biograph, Brandt, schreibt über diesen Einschnitt in Louises vierjähriges Leben: Luise ein zartes und kränkliches Kind,hatte große Mühe, die ersten Anfangsgründe des Unterrichts in sich aufzunehmen, und die Tanten, darüber erzürnt, suchten durch Strenge zu erzwingen, was die Natur versagte. In zartem Alter erkrankte sie an Blattern, die für immer ihre Schönheit zerstörten. Schon als 14jähriges Mädchen mußte sie (Louise) die Haushaltung führen, sowie sich an der Pflege ihrer kleinen Geschwister betheiligen. Ihre Mutter beschäftigte sich in der zahlreichen Familie, in der auch noch Zeit und Kraft durch so viele Besuche und Gäste in Anspruch genommen wurden, mit der Pflege ihrer Kinder in der Regel nur so lange, als sie noch an der mütterlichen Brust waren; gleich nach deren Entwöhnen wurde die Wiege in Luisens Zimmer gesetzt, und diese hatte die Kleinen von nun an zu besorgen, schreibt Brandt. 10 Jahre übte Reichardt sein Kapellmeisteramt bei Friedrich II. und Friedrich Wilhelm II. aus. Durch Intrigen um das heiß begehrte Amt eines Hofkapellmeisters und durch eigene unvorsichtige Äußerungen zu den revolutionären Veränderungen in Frankreich, deren erste Phase Reichardts ungeteilte Zustimmung findet, die er auch in seinen veröffentlichten Reiseeindrücken für jedermann mitteilt, manövrierte er sich in das königliche Abseits.Er wird als nicht mehr tragbar in königlichen Diensten nach Halle abgeschoben, seines Amtes enthoben, aber durch das Gehalt eines Salinedirektors finanziell abgesichert. Er kauft 1794 das ehemals Kestnersche Gut in Giebichenstein für 9300 Taler, das den Gutshof und das 2089 Hektar große Gelände umfaßt. 2000 Taler von der Kaufsumme streckt Luise von Anhalt- Dessau, seine Gönnerin, vor. Louise übernimmt mit 15 Jahren die Haushaltung. Obwohl mit den gleichen gesanglichen Talenten wie ihre Mutter ausgestattet, fördert Reichardt nur sporadisch die Begabung seiner Tochter. Es ist allein der Willenskraft Louises anzurechnen, wenn sie sich trotz aller Aufgaben nach und nach geistige wie musikalische Bildung aneignet, indem sie von dem gesellschaftlichen Umgang ihres Vaters profitiert. Brandt schreibt über diese Phase ihres Lebens: Oeffentlich ließ sie der Vater indeß niemals als Sängerin auftreten, und ihr Wirkungskreis beschränkte sich daher auf die Kirche und zahlreiche Privatzirkel, wozu das unstete Leben des Vaters, den sie oft zu begleiten hatte, und dessen vielfach wechselnder Aufenthalt, bald in Hamburg und Berlin, bald in Giebichenstein sowie später Kassel häufige Gelegenheit darbot. Für gewöhnlich mußte sie sich indeß daheim ganz dem Haushalt widmen, doch so, daß die Gäste sie nie im Gesellschaftszimmer vermißten und sie immer bereit war, den Vater bei den Unterhaltungen zu unterstützen, sei es durch Musik oder durch Gespräch. Um dies bei sehr geringer Dienerschaft möglich zu machen, stand sie mit ihren beiden ältern Schwestern schon um 4 oder 5 Uhr Morgens auf, besorgte, so viel es möglich war, alle häuslichen Geschäfte noch vor dem Frühstück, und dann benutzten die Mädchen das Stündchen nachher, wo die Gäste noch im Gespräch mit dem beredten Hauswirth festgehalten wurden, die Gastzimmer in Ordnung zu bringen, sodaß diese wie von unsichtbaren Händen bedient wurden. Der Tisch war möglichst einfach, aber sehr gut, und da die Familie schon an sich sehr zahlreich war und der Zufluß der Gäste groß, so kostete der Haushalt viel, leider waren Reichardts Taschen fast immer leer. Teils aus dem Berliner Kreis, teils aus dem Kreis junger Studenten, die damals in den Jahren vor der napoleonischen Besetzung Halles an die Friedrichs-Universität strömten, teils aus den Kreisen der bürgerlichen Intelligenz rekrutierte sich Reichardts Gesellschaftskreis. Goethe besuchte Reichardts Gibeon, wie er seinen Wohnsitz nannte, in den Jahren 1802, 1803 und 1804. Im Mai 1803 weilte er fünf Tage in Giebichenstein, las im Kreise der Giebichensteiner Freunde den 1. Akt der Natürlichen Tochter vor. Reichardts Vertonungen Goethescher Gedichte fanden die ungeteilte Anerkennung Goethes. Louise war nicht die schönste unter den sieben Töchtern Reichardts, aber die am meisten geachtete und bewunderte im Kreis der jungen Romantiker mit Ludwig Tieck, Clemens Brentanto, Novalis, Achim von Arnim, Henrich Steffens und Friedrich Schleiermacher. Später in Kassel gehören die Gebrüder Grimm zu ihrem Freundeskreis. Sie vertont die Gedichte ihrer Freunde. Zurückblickend beschreibt Henrich Steffens diese Zeit: Ich vergesse nie den gewaltigen Eindruck, den Luise auf mich machte, wenn sie uns in einer waldigen Gegend folgte, und von einfachen Akkorden der Harfe begleitet, Bretano’s wunderschönes Lied:"Durch den Wald mit raschen Schritten" nach der eigenen Melodie, sang. Die Waldeinsamkeit mit ihrem wunderbaren Zauber, ergriff mich, wenn ich sie hörte, und wie eine Waldfee saß sie da, welche die Macht hatte, alle Geheimnisse des Waldes laut werden zu lassen. Sie war es, die zuerst mein nordisch verschlossenes Ohr für den Zauber des Gesanges aufschloß und mir eine reiche Welt bis dahin unbekannter Genüße schenkte. Reichardt veröffentlicht 1805 die ersten Lieder Louises XII deutsche und italienische romantische Gesänge, komponiert und Ihrer Durchlaucht der Herzogin Mutter Anna Amalia von Sachsen-Weimar und Eisenach aus reiner Verehrung zugeeignet. Während Reichardts Lieder heute noch in der Musikwelt ihren bescheidenen Platz behaupten, sind erst seit kurzem Anstrengungen unternommen worden, auch Kompositionen sogenannter Dilletantinnen, zu denen auch Louises Lieder gerechnet wurden, wieder aufzuführen. Es heißt, daß Louises Lieder zur damaligen Zeit in aller Munde waren, deren einfacher, melodischer Satzgesang zum Nachsingen verführte. Reichardt führte ein offenes Haus. Die sieben schönen Töchter bildeten einen Gesangschor und einen zusätzlichen Anziehungspunkt für die Jugend im heiratsfähigen Alter. Dichter wie Gelehrte besuchten das Haus, Freundinnen, Musikliebhaber pflegten miteinander Umgang. Zu Louises Freundinnen zählten Wilhelmine Wolf, Minchen genannt, die schöne Tochter des Professor August Wolf, dem Begründer der Altertumswissenschaft an der halleschen Universität, Caroline Wucherer, die ältere Schwester des Camerrats Ludwig Wucherer. Carl Loewe singt als Schüler seines Lehrers Daniel Gottlob Türk mit Louise Duette. Im Gegensatz zu ihren Schwestern widersetzt sich das Schicksal bei Louise einer glücklichen Verheiratung. Zweimal reißt der Tod den Verlobten von ihrer Seite, 1800 den Dichter Friedrich August Eschen und 1803 den Maler Franz Gareis, der zum engeren Dresdener Malkreis um Caspar David Friedrich und Philipp Otto Runge gehörte. Die glücklichen Tage im „Dichterparadies der Romantik" werden durch die hereinbrechenden Kriegsgeschehnisse von 1806 abrupt beendet und können in der Folgezeit nie wieder erstehen. Auf Befehl Napoleons wird im Zuge der Besetzung Halles nach der Schlacht von Jena und Auerstedt Reichardts Gut zerstört. Reichardt hatte zu keiner Zeit seinen Haß gegen den Eroberer verheimlicht. Reichardts Familie flieht vor den Besetzern nach Berlin, seine Familie kehrt aber bald in das zerstörte Gut zurück, während Reichardt an der Verteidigung Danzigs teilnimmt, nach Königsberg und Breslau reist, um seine Dienste dem preußischen König anzubieten. Durch den neuen Machtwechsel wird Reichardt völlig mittellos. Louise versucht auf ihre Weise, die Familie vor Hunger und Not zu schützen. Der Garten wird zum Broterwerb genutzt, Louise und ihre Schwestern sticken Weißwäsche. Louise unternimmt erste Schritte in Richtung Musiklehrerin, sie bildet einen Gesangschor aus jungen Mädchen, erteilt Gesangsunterricht und nimmt Mädchen in Pension, deren Eltern verreist sind. Nur kurz dauert die Anstellung Reichardts als Hofkapellmeister in Kassel, der neuen Hauptstadt des Königreiches Westphalen. Während Reichardt auf Reisen geht, um neue Geldquellen zu erschließen, muß Louise die Sorgen der Familie allein tragen. In Kassel erteilt sie ihren Schwestern Gesangsunterricht, profitiert von der Nähe zum französischen Theater, fühlt sich aber in der geistig anspruchslosen Gesellschaft Kassels nicht wohl. In Kassel lernt sie die Gebrüder Grimm kennen, besonders zu Wilhelm Grimm entsteht eine enge Bindung. Von ihm existiert jener Ausspruch über Louise, der die besonderen Seiten dieser Persönlichkeit erfaßt: Etwas Genialisches ist bei alledem in dem Mädchen, das sich nur in unsern Sitten und in ihrem Geschlecht nicht äußern kann. Gemeinsam mit Achim von Arnim bemüht sich Wilhelm Grimmm, die Möglichkeiten einer selbständigen Erwerbstätigkeit als Gesangslehrerin für Louise zu erkunden. In einem Brief vom 2. März 1809 schreibt Wilhelm Grimm an Achim von Arnim von Schulden, die Reichardt gemacht hat: Sie ängstigt sich sehr über diesen ungewissen Zustand; Louise, die diesem Unheil kein Ende, und die Schulden jährlich größer werden sieht, hat den Entschluß gefaßt, durch Unterricht im Singen und Musik und ein Concert jährlich, in Zeit von 10-12 Jahren so viel zu verdienen, um diese zu bezahlen und Giebichenstein zu erhalten. Sie denkt deshalb nach Hamburg oder Frankfurt zu gehen, zwölf Schülerinnen zu erhalten, die jede Stunde 1 Thaler bezahlen, und täglich 4 Stunden zu geben, so wäre ihr schon eine Einnahme von 1200 Thalern gesichert. Ich zweifle nicht bei ihrem Charakter, daß sie es durchsetzen....wird. Es bedeutete kein leichtes Unterfangen, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Denn erstens war die wirtschaftliche Lage durch die napoleonische Besetzung schlecht. Aus Frankfurt schreibt Bettina Brentano, daß die Leute viel lieber bei schlechten Gesangslehrern Unterricht nehmen, weil diese nicht so viel an handwerklichem und materiellem Vermögen ihren Schülerinnen abverlangen. Zweitens wagte sich Louise in Gefilde vor, die für eine Frau aus bürgerlichem Hause als unschicklich galten. Die Zahl der Frauen, die am Anfang des 19. Jh. als Privatmusikerinnen arbeiteten , war zwar im Steigen begriffen, aber nur etwa zwei Prozent Frauen waren in künstlerischen Berufen erwerbstätig. Allein das Reisen war ein gewagtes Unterfangen für alleinstehende Frauen. Deshalb ist Reichardts Widerstreben gegen Louises berufliche Existenzgründung zu verstehen. Bei dem Biographen Brandt lesen wir: Reichardt nahm seiner Tochter das feierliche Versprechen ab, nicht unter einem Mittelpreise zu unterrichten und gab ihr überhaupt allerlei Verhaltensregeln, um ja nichts gegen den A n s t a n d und das, was ihm S e l b s t a c h t u n g hieß, zu unternehmen, als Louise 1809 im Alter von 30 Jahren nach Hamburg zu einer befreundeten Familie übersiedelte, in die Stadt, wo sie Bekannte und Verwandte hatte. Trotz französischer Belagerung erfährt Louise in den ersten Jahren ihrer Tätigkeit in Hamburg regen Zuspruch von Schülerinnen. In einem Brief an Wilhelm Grimm 1809 spricht sie von 26 Schülerinnen, 1811 sogar von 42 Schülerinnen. Untersuchungen belegen, daß sie für die damaligen Verhältnisse gut verdiente, für eine Stunde wurde nie unter einem Speziethaler gezahlt, in Altona zahlte man ihr sogar einen Dukaten. Die Situation ändert sich im Zuge der längeren französischen Besetzung in den Jahren 1810-1814. Während die reichen Hamburger in dem harten Winter 1814 die Stadt verlassen, benutzt Louise die Zeit, um ihr Klavierspiel zu verbessern, spielt gemeinsam mit anderen Musikern Kammer-musik von Haydn, Mozart und Beethoven. Louise unterrichtet entweder zu Hause oder geht in die Wohnungen ihrer Schülerinnen. 1811 nimmt sie ihren jüngsten Bruder Fritz mit nach Hamburg, um ihm eine Ausbildung zu ermöglichen. Sie bezahlt das Pflegegeld von 300 Talern, weil dazu die Eltern nicht in der Lage sind. Durch die Erweiterung ihres Angebotes von Klavierund Gesangsstunden kann sie 1814 eine Musikschule gründen. Es zeichnet Louise Reichardts Charakter aus, daß sie nicht nur für ihren Bruder die Ausbildung zum Architekten bezahlte, sondern auch Geld nach Hause an die Eltern schickte und mittellosen Schülerinnen unentgeldlich Unterricht erteilte. Daneben spendete sie selbst Geld oder sammelte Geld , gemeinsam mit ihrer Freundin Amalie Sieveking, für die Düsseldorfer Rettungsanstalt und andere Wohltätigkeitseinrichtungen. Daß zum Schluß für ihre eigene Altersfürsorge nichts übrigblieb, war ihr wohl bewußt. Letztlich kam ihr auch die Leibrente ihrer Freundin Sillem nicht zugute, weil sie zu früh starb. Wenn sie selbst durch Krankheit nicht in der Lage war, ihren Verpflichtungen nachzukommen oder sie verlor Schülerinnen, dann war ihre Existenz ernsthaft gefährdet. In ihrer Lehrtätigkeit ließ sie sich von folgenden Prinzipien leiten, erstens das eigene Können immer wieder in Frage zu stellen und im geistigen Austausch mit führenden Persönlichkeiten ihrer Zeit zu bleiben, wie sie es mit dem Musikwissenschaftler Carl von Winterfeld, Karl Friedrich Zelter, dem Leiter der Berliner Singakademie, und dem Maler Phillip Otto Runge tat. Zweitens wollte sie willens und fähig sein, die Begabungen und persönlichen Eigenarten der Schülerinnen zu erkennen und diese mit Geduld und Einfühlungsvermögen zu fördern. Von Anfang an war sie nicht bereit sich von Meinungen zu beeinflussen , man könne in Hamburg nur Lieder und Opern von Mozart und italienischen Komponisten, keine aber von ihrem Vater und am wenigsten alte Kirchenmusik singen zu lassen. Auf Einladung der befreundeten Kaufmannsfamilie Wilhelm Benecke reiste sie im April 1819 nach London, mit der Absicht noch günstigere Konditionen für ihr Wirken als Musiklehrerin zu erreichen. London bildete damals ein Zentrum des Musiklebens. Nirgendwo wurden bessere Honorare oder Gagen verdient. Außerdem knüpfte sie mit dieser Reise an das große Interesse ihres Vaters, der 1785 London besucht hatte, für die Oratorien Händels an. In späteren Jahren gehört sie zu den verdienstvollen Musikern, die die schon in Vergessenheit geratenen Oratorien Händels wieder aufführen. Aber offensichtlich stand die Reise unter keinem glücklichem Stern. Es war der falsche Zeitpunkt, die Winterlustbarkeiten der Londoner dauerten bis zum Juli. Wegen einem dauerndem Gesichtsschmerz konnte sie nicht zu ihren Schülerinnen gehen, sie hatte außerdem gehofft, daß man zu ihr käme. Fünf Monate dauerte ihr Aufenthalt. Trotzdem bezeichnete sie ihren Aufenthalt als glücklich, fühlte sich aber gegenüber ihren daheimgebliebenen Schülerinnen verpflichtet, die die Kosten der Reise übernommen hatten, bald wieder zurückzukehren. Ihrem väterlichen Freund Zelter ist es offensichtlich zu verdanken, daß Louise einen Chorverein zusammen mit Johann Heinrich Clasing 1816 gründete. Die Auftritte fanden im großen Saale des Hauses von Frau Sillem statt. Clasing vertrat bei den gemeinsamen Konzerten in der Öffentlichkeit den Musikverein, kümmerte sich um die Leitung des Orchesters, so daß bis in die heutige Zeit die Ansicht vertreten wurde, Clasing habe dem Verein vorgestanden und auch gegründet. Ob Louise selber in der Öffentlichkeit dirigiert hat, ist noch umstritten. 1817 werden der Hundertste Psalm und das Oratorium Judas Maccabäus von Händel aufgeführt. 1818 folgte ein großes Musikfest gemeinsam mit anderen Chören aus Altona, Kiel, Bremen, Lübeck, Ludwigslust und anderen kleineren Orten. Das Fest fand einen würdigen Abschluß am 9. September in der Michaeliskirche mit der Aufführung des Messias von Händel und des Requiems von Mozart vor 5000 Zuschauern. In den folgenden Jahren werden weitere Oratorien von Händel aufgehört. Louise Reichardt gehört zu den ersten Musikern, die in Hamburg Händel wieder aufführten. Für Louise stand bei der Aufführung Händelscher Werke an erster Stelle die Werktreue. Die heute diskutierte Frage, ob Händels Werke in originaler Sprache oder in Form einer Eindeutschung gesungen werden sollen, entschied sie zugunsten des letzteren. Für die Aufführungen der Oratorien und des Saul übersetzte sie die englischen Texte ins Deutsche, um dem Publikum die christliche Botschaft nahe zu bringen. Die Chorproben leitete Louise selbst. Außer Händel pflegte sie die Rennaissance altitalienischer Kirchenmusik(Palestrina) und setzte sich für die Werke unbekannter Komponisten wie Graun, Hasse, Fasch und Romberg ein. In der Hauptsache komponierte Louise Lieder in Begleitung mit Pianoforte, Gitarre oder acapella. Sie vertonte Texte ihrer Feunde, Achim von Arnim, Clemens Brentano, Philipp Otto Runge, aber auch von Herder, Lavater, Goethe, Stolberg, Novalis und Tieck, dem italienischen Librettisten Pietro Metastasio. Volksliedern aus der Sammlung Des Knaben Wunderhorn gab sie neue Vertonungen. Ihre Kompositionen wurden auf Subskriptionsbasis verkauft, d.h. sie mußte sie selbst vorfinanzieren, die Käufer mußten vor dem Druck ihr Kaufinteresse schriftlich bekunden. In den späteren Lebensjahren wendete sie sich mit ihren Vertonungen geistlichen Inhalten zu, das entsprach ihren Vorstellungen von einem Leben in christlicher Demut und Entsagung. 1836 gibt ihr Schwager Karl von Raumer ein gemeinsam mit ihr komponiertes und getextetes Choralbuch heraus, das als wegweisend für das evangelische Kirchenlied angesehen wird. Ihr umfangreiches Liedwerk ist heute zwar archivarisch erfaßt, aber liegt verstreut in verschiedenen Archiven der Welt und ist nur schwer zugänglich. Eine Werkausgabe liegt nicht vor. Louises Lebensjahre nach 1819 sind durch Krankheit und Einsamkeit geprägt. 1814 war der engste Vertraute ihres Herzens, ihr Vater, gestorben. So wie in Halle, als sie die Schicksalschläge durch den Tod ihrer Verlobten hinnehmen mußte, sucht sie auch in Hamburg seelischen Beistand bei einem Geistlichen. In Halle richtete sie in ihrem Schmerz Friedrich Schleiermacher auf, in Hamburg begibt sie sich in die Hände des Pastors Johannes Goßner, den sie 1824 persönlich kennenlernte. Im Gegensatz zu Schleiermacher legt Goßner als Vertreter der Erweckungsbewegung, die dem zunehmenden Verfall des Christentums Einhalt gebieten wollte, seinen Anhängern ein aufopferungsvolles Leben im Geiste Christo, in Entsagung und christlicher Nächstenliebe nahe. Louise unterwirft sich dieser Lebenshaltung bedingungslos mit dem bereits genannten Ergebnis, daß sie in Notzeiten der Krankheit bar jeglicher geldlicher Mittel auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen ist. Das Ende ihres Lebens ist dadurch vorbestimmt. Sie lebt zuletzt wegen ihrer Armut im Haus eines Dreckfegers. Trotzdem kommt ihr Tod am 17. November 1826 für ihre Freunde unerwartet. Ihr Nachlaß besteht aus ein paar Bildern von Gluck, Händel und ihres Verlobten Gareis und eigenen Kompositionen. Ihre Beerdigung richtet das Zehntenamt der Stadt Hamburg aus. 50 bis 60 Personen folgen ihrem Leichenwagen. Am Grabe auf dem Johannisfriedhof sangen ihre Schülerinnen Louises Choräle.

Gisela Licht





zurück zur Publikationsvorstellung